/“aden arabie“, paul nizan (pamphlet 1969)/

secondhand-exemplar aus dem jahr 1974, abgegriffen, vergriffen, nicht mehr aufgelegt: paul nizan scheint kein autor der modernen stunde zu sein. 1905 in tours geboren, erlebt er seine kindheit im ersten weltkrieg. fortan entwickelt er sich zu einem urban-intellektuellen studenten, der – an der seite jean-paul sartres – die elitehochschule école normale supérieure in paris absolviert. sein lebenswille schwankt zeitlebens zwischen empörung und überdruss. er stellt seine energie lange zeit dem marxismus und dem kommunistischen untergrund der französischen résistance zur verfügung. seine überschüssige wut zieht ihn letztlich in den krieg, in dem er 1940 bei dünkirchen fällt.

„aden arabie“ kann als persönlichste schrift von nizan gelesen werden und erhält dadurch zusätzliche autobiographische brisanz. während seiner zeit in arabien entsteht ein pamphlet, das francois bondy 1970 zurecht als ein werk der „anti-exotik“ beschreibt. in „aden“ wütet nizan; er schimpft und hadert mit den „geistlieferanten“ des nachkriegsfrankreichs, sucht heil in einer reise und findet dort nur neue aufschlagflächen für zerriss und verschmähung. ein vokabular der vernichtung, ausgeschmückt mit gedankenspielen der gewalt, blasphemie und des puren hohns. seiner intellektuellen beobachtungsschärfe im detail steht der anti-kulturelle flair des scheuklappenkommunisten entgegen, in dessen hasstrichter nizan immer tiefer gen exodus rutscht. wenn sartre sagt, dass nizan die stimme der revoltierenden jugend frankreichs werden könnte, so hat ihn die geschichte fürwahr belehrt.

weshalb findet nun das vergilbte werk einen platz im kanon der rezensierten bibliothek? was wiegt das wagnis auf, längst überholte phrasen in den literarischen kosmos zu dreschen und damit gescheitertem pseudo-politismus zu frönen? es sind die aufblitzenden gedanken des betrübten, die sich in melancholie gesuhlt zu postmoderner schönheit und relevanz wandeln: es ist die anti-essentialistische romantik des reisen, die nizan wie kein anderer darzustellen vermag.

bereits zu beginn, nach seiner reise von paris nach aden, bekundet der ich-erzähler müde: „ich bin angekommen: nichts, worauf man stolz sein könnte.“ (s. 62) schon bald reflektiert er die motive für das streben nach ferne und kommt zum ernüchternden schluss, dass nicht die ferne selbst, sondern die unerträgliche nähe der auslöser für das streben nach ferne sei, verwurzelt im epizentrum angst: „die erste regung der angst ist die flucht.“ (s. 63) nizan, als meister der desillusion, präzisiert die sachlage schlussendlich: „reisende, ihr werdet immer leerer und zittert, ihr werdet immer kränker von den auswirkungen eures leidens, umsonst versucht ihr, euch damit zu beruhigen, dass ihr euch immer wieder sagt, ihr seid frei und das könne euch immerhin keiner nehmen. die freiheit des meeres und der landstrassen ist eine illusion. (s. 67)

er beäugt – sichtlich skeptisch – die vorgänge in der arabischen kleinstadt. widerwillig lässt er sich auf die lebensweisen ein und skizziert ein nahezu kulturfeindliches portrait deren sitten und bräuche. aden – zu jener zeit eine bedeutsame handelsstadt, unweit der meeresenge bab al-mandab am roten meer gelegen und politisch gestärkt durch flottenstützpunkte und regierungsbefugnisse – strahlt die kulturelle vielfalt einer sich durch orientalische wie westliche einflüsse mäandernden stadt aus. nizans beobachtungen hegen jedoch keine sentimentalitäten für transkulturelle phänomene; er dokumentiert stumpf:

„diese leute spielen ihre rollen in kleinen anekdotenhaften dramen, die wie schattenspiele die typischen bewegungen des lebens der zivilisierten menschen wiedergeben. diese rollen sind beherrscht von gewohnheiten und schwachen leidenschaften, vom leben, jenem simplen spiel von lustlos angenommenen bräuchen. […] die bewohner von aden leben genauso wie die von london und paris – es sind ja die gleichen pflanzen in einem treibhaus, dessen temperatur sie wachsen lässt: sie tauchen auf, bleiben stehen, gehen, weinen, verschwinden, verflüchtigen sich ohne sinn und verstand. anfangs sieht man gar nicht, warum sie kommen und gehen, klingeln, sich unterhalten, man errät nur, dass diese aktivitäten von fremden plänen und kräften geleitet werden, in denen sich eine erklärung für jene wechselnden erscheinungen finden muss. sie führen sich auf, wie erwachsene sich vor den kritischen blicken von kindern aufführen. […] schliesslich durchschaut man dieses abstrakte spiel, bei dem die spieler fast nur zwei dimensionen haben, und es ist auch nicht schwer, das zu durchschauen, obwohl der sinn des stückes und die fabel aus allem widersinn des menschlichen lebens zusammengesetzt sind. […] in allen städten der welt gibt es zeitgenossen, die auf den tag warten, wo der deckel in die luft gehen und die schwungräder abspringen werden.“ (s. 83)

nizans apokalyptische darstellungen enthalten spuren ethnophobischer kulturverachtung und speisen sich letztlich aus dem emotionalen überbau der selbstreflexion. er sitzt dem irrglauben auf, dass reisen nur vor dem äusseren auge geschieht, während das innere die bewertende instanz innehält. dabei ist es eben jene erfahrung, der wir im fremden begegnen, die „den horizont der eigenen lebensweise transzendiert und für andere möglichkeiten der existenz öffnet, die eigene lebensweise aber auch in frage stellt“ – wie fuchs und berg (1993) treffend formulieren. nizans resümee zum mehrwert seines arabischen aufenthaltes ist jedoch vernichtend: „das ist der gewinn der reisen. es gibt nur eine einzige gewinnbringende art zu reisen, das ist die reise zu den menschen, die reise des odysseus, wie ich hätte wissen müssen, wenn mir meine humanistische bildung etwas genutzt hätte. und sie endet immer mit der rückkehr. der ganze gewinn einer reise liegt in ihrem letzten tag.“ (s. 101)

der abspann des pamphlets handelt von der wiederankunft in paris, von der unmittelbarkeit der dort vorherrschenden bedrückung als ausläufer des ersten weltkrieges. aber auch der ich-erzähler spürt, dass die variable zeit den begriff „rückkehr“ obsolet macht – dass es unter einwirkung von zeit keine solche geben kann. er reist nicht zurück nach paris, sondern wieder nach paris hin. er erlebt paris anders, er denkt paris anders, er spricht und handelt vor dem hintergrund der erlebnisse und erfahrungen aus aden. er war kein herumirrender odysseus, kein spielball im pulsierenden lebenskern von aden, aber die psychische und physische auseinandersetzung mit den dortigen lebensgewohnheiten haben ihn dennoch beeinflusst und geformt.

adenarabie(quelle: mundoobrero.com)

/nizan, paul: aden. die wachhunde. zwei pamphlete. reinbek: rowohlt paperback. ausgabe 1969 (erstaufl.)/

 

 

/“nicht-orte“, marc augé (monographie 1988)/

nein, „nicht-orte“ von marc augé ist keiner der verstaubten anthropologischen wälzer, die man nur sachte aufblättern darf, da sonst das feine papier in den eigenen, groben fingerkuppen zu bröseln beginnt. kein leineneinband oder emblem ziert die stolze imperialistische errungenschaft von feldforschung in wilden, fremden gebieten. die zeiten, in denen sich die ethnologie über tropenhüte und stark profilierte wanderschuhe definierte, sind passé. ethnologen – das ist längst klar – sind darin gescheitert, das soziale zu vermessen, indem sie „dicht beschreiben“ (geertz), mit notizblöcken oder papyrusrollen.

das leichte büchlein „nicht-orte“ zeigt einen leeren parkplatz. kultur: westlich. motiv: konsum. mobilität: auto. es ist – und dies macht der autor schnell und unweigerlich deutlich – eine ethnografie des nahen. sie betrifft uns alle.
dass die thematik „raum“ und „räumlichkeit“ in den letzten drei dekaden ein schattenpflänzchendasein fristete und nun plötzlich wieder ins tageslicht des literarischen wie wissenschaftlichen interesses zurückgeholt wird, macht sich sehr leicht an der neuauflage dieses von marc augé 1991 verfassten werkes fest.
doch warum? der raum ist doch ohnehin erschlossen. google-earth bildet jeden zentimeter der erdkugel ab und telekommunikation via apfel geschieht zudem in nahezu gleichgeschalteter gleichzeitigkeit. es besteht keinen zweifel daran: die vermessung der welt ist abgeschlossen. raum spielt keine rolle mehr. oder?

augé widerspricht hier nicht, aber er spezifiziert. er unterscheidet die spatiale, geographische erschliessung von raum und die soziale. letztere bezieht sich darauf, dass ein ort nicht per se ist, sondern gebildet wird. augé: „sobald individuen zusammenkommen, bringen sie soziales hervor und erzeugen orte.“ (ebd., 110). raumbegriffe wie „wege“, „schnittpunkt“ oder „zentrum“ (vgl. ebd., 69) müssen in dieser hinsicht neu gefasst werden: welche interaktionswege sind gangbar? welche kommunikativen schnittpunkte werden an welcher stelle deutlich? und wo ist – ungleich zum stadtkern – das zentrum des ortes wirklich?

augés kritisches auge richtet sich auf jene orte, die eine eigenartige paradoxie vereint. sie sind voll mit menschen und doch in sich leer. er nennt sie „nicht-orte“. diese nicht-orte, wie z. b. flughäfen, u-bahnen, flüchtlingslager, supermärkte und hotelkette, sind ‚orte des ortlosen‘. man ist nicht heimisch in ihnen. sie bilden keine individuelle identität aus, haben keine gemeinsame vergangenheit und schaffen keine sozialen beziehungen. sie sind zeichen kollektiven identitätsverlusts.

„der nicht-ort ist das gegenteil der utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische gesellschaft.“ (augé 2012, 111)

die nicht-orte, die von der moderne geschaffen wurden, leben in der postmoderne fort und bieten ein tristes schauspiel der vereinsamung (s. cover). dies kulminiert in digitalen nicht-orten, die den menschen jederzeit als ausflucht zu sozialen interaktionen bereitstehen. flimmernde lichtquellen mit wahllosen inhalten zirkulieren im abseits und kreieren in ihrem gesamt eine szenerie des gedanklichen schweigens.

das buch endet im düsteren, doch der leser spürt, dass augé genau jene kehrseite von nicht-orten nicht beleuchtet hat, die der gesellschaftlichen evolution zum wiederholten male einen dialektischen twist verpasst. sind es nicht die nicht-orte, die raum für neue strukturen bieten? die nicht mit geschichte belegt sind? an denen sich menschen finden können, aber nicht müssen? die raum raum sein lassen?

um es in die worte von camus einzupassen: müssen wir uns einen nicht-ort nicht als einen glücklichen ort vorstellen?

nichtort(quelle: airprn.com)

/augé, marc: nicht-orte. münchen: c. h. beck verlag. ausgabe 2010 (orig. 1992)/

/“die zikaden“, ingeborg bachmann (hörspiel 1955)/

als 1955 im nwdr das hörspiel „die zikaden“ von der in neapel lebenden schriftstellerin ingeborg bachmann gesendet wurde, war der krieg seit zehn jahren vorüber. bachmann, aus klagenfurt stammend, erlebte hitlers einmarsch in österreich als abruptes ende ihrer kindheit. es lässt sich nur mutmaßen, ob hierdurch ihr früher traum der reinen poesie geschürft wurde und distanz in ihre schriften fuhr, unsicheres zwischenräuspern, eine sehnsucht nach harmonie und die damit verbundene härte und verbitterung ihrer absenz.

„die zikaden“ beschreibt die dystopie einer insel. das stilmittel des entfliehens und des traums von glück im neuen und isolierten wird ohne rücksicht entlarvt. romantischer eskapismus sieht fürwahr anders aus. medium des terrors im idyll sind die zikaden, monoton und siren – menschlicher gesang aus längst verkommener zeit? über einen epischen erzähler lässt bachmann in das hörspiel einleiten:

„es erklingt eine musik, die wir schon einmal gehört haben. aber das ist lange her. ich weiss nicht, wann und wo es war. eine musik ohne melodie, von keiner flöte, keiner maultrommel gespielt. sie kam im sommer aus der erde, wenn die sonne verzweifelt hoch stand, der mittag aus seiner begrifflichkeit stieg und in die zeit eintrat. sie kam aus dem gebüsch und den bäumen. denk dir erhitzte, rasende töne, zu kurz gestrichen auf den gespannten saiten der luft, oder laute, ausgetrockneten kehlen gestossen – ja auch an einen nicht mehr menschlichen, wilden, frenetischen gesang müsste man denken. aber ich kann mich nicht erinnern. und du kannst es auch nicht. oder sag, wann das war! wann und wo?“ (die zikaden – ingeborg bachmann 1974, 87)

wenn eine insel das scheinbare kollektiv rahmt, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass gemeinsamkeit gewollt ist. auf der namenlosen insel ist das gegenteil der fall: selbstgewollte isolation, unzufriedenheit und sozialneid. robinson, der gefangene, mrs. helen brown, mr. charles brown, prince ali, jeanette, stefano; alle wollen sich freimachen von der last des festlandes. zugereiste, deren reisemotiv nicht der aufbruch, sondern die flucht war.

lakonisch, nahezu ironisch, beschreibt bachmann die parallelen existenzen der insulaner. einziger botschafter und bindeglied ist antonio, der jeden kennt und jedem hilft – aber die wirklich drängenden fragen nach sinn und sinnhaftigkeit gleichgültig verneint. es bleibt die unerbitterliche erkenntnis, dass die flucht auf die insel den personen zwar kurzfristige linderung brachte, tief verwurzelte gewalt allerdings in ihren köpfen mit auf die insel kam. ihr insulanes leben führen sie vor dem hintergrund ihrer vergangenheit. ihr habitus spiegelt sich im schemenhaft erkennbaren festland. ihr handeln ordnet sich der fiktiven vorstellung vom früheren leben unter und reflektiert sich als endlosschlaufe in der zeit, zeit, zeit, die es auf der insel im überfluss gibt.

das hörspiel kann im eigentlichen sinne nicht als solches bezeichnet werden, sondern als situationsbeschreibung von parallelexistenzen, die nur monolog interagieren. einzig und allein der gefangene wagt den ausbruch  – und trifft auf unverständnis und indifferenz ob seines mutes:

„nein, sie verstehen nicht. aber hören sie zu: kurz nach mitternacht war es soweit. über ein jahr habe ich an diesen einen augenblick gedacht, von dem ich die uhrzeit nie wissen werde, nie die konstellation der sterne am himmel. ich glaube, ich hatte ihn so gut vorbereitet, dass der weg über die felsen nach dem lautlosen ausbruch vorher mir wie ein wiederholung schien, ein weg, den ich in gedanken schon so oft gegangen war, dass ich ihn ohne verwunderung – nicht zu rasch, nicht zu langsam – nahm. der teil des augenblicks jedoch, in dem ich auf dem niedrigsten felsen der klippenwand angelangt war und die arme hob und sprang, war neu. er kann sich nicht wiederholen. ich muss zwölf stunden geschwommen sein, nackt und wehrlos. ich neidete den andren die zellen, die geruhsamkeit in diesen stunden. dass ich die wette nicht verlor und die nacht überholte, rührt vielleicht daher, dass mein verstand nie still stand, wenn mein herz es tat, weil es sich berührt, betastet, umgarnt vom wasser und dingen im wasser fühlte.“ (die zikaden – bachmann 1974, 98)

bachmanns wortgewalt erschöpft sich nicht in pompösen wortgewittern, sondern lodert wie eine kleine und doch unbändige flamme. sie streut prosaische funken, hie und da ein poetisches flackern – der rest folgt ihrer prämisse, dass omission der emission schon immer um längen voraus war.

„die zikaden“ kann als ruhiges und tiefenpsychologisches hörspiel bezeichnet werden, unaufdringlich und scheu wie bachmann selbst. als das hörspiel herauskam war sie längst berühmt, als frau, die dem intellektuellen deutschland – organisiert in der prätentiösen gruppe 47 – das literarische fürchten lehrte. sie wurde auf händen getragen, von max frisch und paul celan umgarnt, und verkümmerte später doch isoliert und seelisch depriviert auf ihrer tabletten- und nikotinberauschten gedankeninsel.

bachmann(quelle: zeitnah.ch)

/bachmann, ingeborg: der gute gott von manhattan. die zikaden. münchen: sonderreihe dtv. ausgabe 1974 (orig. 1958)/

/wertlosebibliothek.de – sprache ist niemals vage/

wo ist die literatur, die stört – wie oskar mazeraths trommel tack tack tack. wo sind die kulturkritischen geister, die sich fragend stellen, tack tack tack, die mut haben, das andere zu schreiben, tack tack tack, das fremde zu schreiben – avant la garde.

der tschechische romancier milan kundera sagte in einem interview: „es ist schon eine weile her, dass der fluss, die nachtigall, die wegen durch die wiesen aus den köpfen der menschen verschwunden sind. niemand braucht sie mehr. wenn morgen die natur von unserem planeten verschwindet, wer wird es bemerken? wo sind die nachfolger von octavio paz, von rené char? wo sind die grossen dichter? sind sie verschwunden, oder ist ihre stimme unhörbar geworden?“ (kundera – in: die kunst des romans)

die >wertlose bibliothek< schafft ein echolot – einen fragmentarischen kosmos der zerfallenen formen, dessen summe eine literarische perspektive auf die postmoderne gesellschaft ermöglicht. nein, es geht nicht um aufbegehren oder bannerhissen, sondern um die schaffung eines un-bedingten und kollektives raums, in der sprache gesichter zeigt, fratzenhaft das unbehagen beschriftet.

die >wertlose bibliothek< besitzt die idee von voraussetzungslosigkeit. sprache ist niemals vage. ihre wesenszüge drücken sich in unterschiedlichsten formen aus.

[wb: günter grass – die blechtrommel; milan kundera – die kunst des romans; pierre bourdieu – gegenfeuer]